HT 2021: Erfahrung und Erinnerung. Israel, die deutschsprachige Linke und der Holocaust

HT 2021: Erfahrung und Erinnerung. Israel, die deutschsprachige Linke und der Holocaust

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Moritz Schmeing, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

Die Sektion „Erfahrung und Erinnerung. Israel, die deutschsprachige Linke und der Holocaust“ setzte sich zum Ziel, das Verhältnis der deutschsprachigen Linken zu Israel anhand jüdischer Erfahrungen neu zu betrachten. In seiner Einführung rekurrierte JAN GERBER (Leipzig) deshalb auf einen Brief Henryk M. Broders an die deutsche Linke, den dieser 1981 in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht hatte. Für Gerber handelte es sich hierbei um ein Dokument eines sich bis dahin noch der Linken zugehörig verstehenden Juden, das beispielhaft für das in der Sektion verhandelte Thema steht. Broder brach in diesem Brief mit der deutschen Linken. Zu viele Zwischenfälle hatten ihn zu dem Schluss kommen lassen, dass sich hinter dem Antizionismus, der in großen Teilen der deutschen Linken seit 1967 selbstverständlich geteilt wurde, eigentlich Antisemitismus verstecke. Diese Beobachtung hatte Broder schon einige Jahre früher in einem Aufsatz von 1976 festgehalten und sich damals für den Ersten gehalten, der über Antisemitismus in der Linken schrieb. Als er später erkannte, dass sich vor ihm Andere wie Jean Améry, Léon Poliakov oder Edmund Silberner damit befasst hatten, gab er zu Protokoll, hätte er sich die Arbeit erspart. Dass demnach diejenigen, die nach 1945 über Antisemitismus schrieben, fast ausnahmslos Juden waren, erhob Gerber in seiner Einführung zum Ausgangspunkt der Sektion. An diese Beobachtung anschließend rückte das Panel weitere, weniger bekannte linke jüdische Perspektiven ins Blickfeld, wobei jeweils eine kommunistische, eine sozialdemokratische und eine Stimme der Neuen Linken beleuchtet wurde.

In Anlehnung an Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte wurde in jedem Vortrag zudem ein Ort ins Zentrum gestellt, an dem sich eine besondere gedächtnisgeschichtliche Perspektive auf das Verhältnis der deutschsprachigen Linken zu Israel entfalten lässt. PHILIPP GRAF (Leipzig) wählte Mexiko-Stadt als Ausgangpunkt seines Beitrags. Leo Zuckermann, deutscher Kommunist jüdischer Herkunft, war vor den Nationalsozialisten von Frankreich nach Mexiko-Stadt geflohen und hatte sich einer Gruppe von Exilkommunisten um Paul Merker angeschlossen. Die Gruppe hatte sich, so Graf, entgegen der kommunistischen Orthodoxie sehr früh und intensiv mit den aus Europa gekommenen Nachrichten über die Vernichtung der Juden auseinandergesetzt. Darüber hinaus vertrat Merker schon 1942 die Position, dass den Juden nach Kriegsende ein eigener Staat zustehe. Graf ging in seinem Vortrag zwei Fragen nach: zum einen, wie Kommunisten zu einer solchen Position gelangten und außerdem, warum es gerade in Mexiko war, dass sie sich derart dezidiert zur Vernichtung der Juden verhielten, während dies von der deutschen Exil-KPD in Moskau nicht bekannt ist. Für Zuckermann galt, wie für die allermeisten Kommunisten, dass er jüdischen Fragen zunächst keine größere Bedeutung beimaß. Er selbst verstand sich bis zum Zweiten Weltkrieg nicht als Jude. Im Exil hatte er sich zunächst für die politisch Verfolgten des Naziregimes eingesetzt. Dafür, dass sich dies in Mexiko änderte, gab es nach Graf mehrere Gründe: So existierte hier eine große deutsch-jüdische Exilgemeinde, deren Mitglieder angesichts eigener Erfahrungen den Beteuerungen Merkers, „Hitler ist nicht Deutschland“, skeptisch gegenüberstanden. In diesem Umfeld seien Kommunisten wie Zuckermann nicht umhingekommen, sich mit den Argumenten der jüdischen Gemeindemitglieder auseinanderzusetzen. Zudem bestand die Gruppe um Merker selbst zum Großteil aus Personen jüdischer Herkunft. Sie alle hatten Familienmitglieder in Europa zurückgelassen. Die Informationen über die Vernichtung der europäischen Juden, die auch über Zuckermanns enge Kontakte zum Jüdischen Weltkongress nach Mexiko gelangten, taten ihr weiteres, dass der Merker-Kreis sich für die jüdischen Verfolgten einsetzte. Sie führten sogar zu der in deutschen kommunistischen Kreisen ungewöhnlichen Schlussfolgerung, dass den Juden sowohl das Recht auf materielle Wiedergutmachung als auch ein jüdischer Staat zustehe. Nach dem Krieg in Deutschland setzte Zuckermann sich für ein Restitutionsgesetz in der sowjetischen Besatzungszone ein. Solange er sich mit seinem Engagement für die jüdische Sache noch im Einklang mit der sowjetischen Parteilinie wähnen konnte – die KPdSU hatte die Gründung des Staates Israels zunächst unterstützt – hielt er daran fest. Nach 1948 hörte Zuckermann jedoch auf sich öffentlich für jüdische Belange einzusetzen. Infolge des antisemitischen Slánský-Prozesses 1952 bzw. aus Angst, ein ähnlicher Prozess stehe in Ost-Berlin bevor, verließ er sogar die DDR und siedelte dauerhaft nach Mexiko über.

Im zweiten Beitrag des Panels wandte sich KRISTINA MEYER (Berlin) der bundesdeutschen Sozialdemokratie nach 1945 zu. Sie untersuchte das Verhältnis der Partei zu Juden in Deutschland und zu Israel und beleuchtete dafür „das Selbstverständnis und die Außenwahrnehmung“ von Jüdinnen und Juden in der SPD. Ausgangspunkt ihres Vortrags war eine Episode, die sich 1969 im Bundeskanzleramt in Bonn zutrug: der Empfang des israelischen Botschafters Asher Ben Nathan durch den neugewählten Bundeskanzler Willy Brandt. Brandts Kanzleramtschef Egon Bahr hatte während dieses Treffens zu Ben Nathan gesagt, dass „hier […] niemand mehr [sitze], der mit der Vergangenheit erpreßbar ist.“ Bahr verwies damit auf Brandts Vergangenheit als Gegner des Nationalsozialismus, unterschlug jedoch gleichzeitig, dass in der neugebildeten Regierung durchaus Minister mit NS-Vergangenheit saßen. Zudem suggerierte die Aussage, dass in den deutsch-israelischen Beziehungen bisher ein Ungleichgewicht zum Vorteil Israels bestanden hätte. Bahr, der während des Nationalsozialismus aufgrund einer jüdischen Großmutter als Nichtarier stigmatisiert worden war, diente Meyer dabei als Exempel einer Stimme der damaligen SPD, die nicht zu den israelfreundlichen innerhalb der Partei gehörten. Auch weitere jüdische Parteimitglieder betrachtete sie. Die Bundestagsabgeordnete Jeannette Wolff gehörte zu den wenigen, die in der Öffentlichkeit als Jüdin auftrat und dort auch über ihre Verfolgungsgeschichte sprach. Andere, wie Gerhard Jahn, Peter Blachstein oder Jakob Altmaier gingen weit weniger offen mit ihrer Verfolgungsgeschichte um. Jahn zum Beispiel, Kind einer jüdischen Mutter, war, nachdem er als „Mischling 1. Grades“ aus der Wehrmacht ausgeschlossen worden war, untergetaucht und hatte so den Nationalsozialismus überlebt. Seine Mutter hingegen war in Auschwitz ermordet worden. Öffentlich sprach er darüber nie. In der besonderen Situation der Nachkriegs-SPD, die verhältnismäßig viele jüdische sowie nicht-jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus beheimatete und sich wie keine andere deutsche Partei für Wiedergutmachungszahlungen einsetzte, dominierte eine Politik der Zurückhaltung. Zugleich wurde eine Politik der „Normalisierung“ praktiziert, in der die Auseinandersetzung mit dem Holocaust sowie mit dem neuen Staat Israel – so die üblichen Termini – „sachlich“, „rational“, „versachlicht“ geführt werden sollte. In Bezug auf die deutsch-israelischen Beziehungen führte dies in Brandts Worten zu der Bezeichnung von den „normalen Beziehungen mit besonderem Charakter“.

ZARIN ASCHRAFI (Leipzig) wählte als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen eine auf den ersten Blick unbedeutend erscheinende Veranstaltung in einer alternativen Buchhandlung in Frankfurt am Main, wo eine Gruppe linker Juden im Januar 1987 die Erstausgabe ihrer Zeitschrift Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart vorstellte. Aschrafi zeigte auf, wie die Herausgeberinnen und Herausgeber (darunter Dan Diner, Susann Heenen-Wolff, Gertrud Koch, Cilly Kugelmann und Martin Löw-Beer) das Thema „Herkunft“ zum Gesprächsgegenstand des Veranstaltungsabends machten – ein Gegenstand, der vor allem im politisch-linken, dem Universalismus verpflichteten Milieu für gewöhnlich keinerlei Relevanz hatte. Wie und warum die linken Juden im Gespräch mit ihren deutschen Genossen der Herkunft eine besondere Bedeutung beimaßen, beantwortete die Referentin, indem sie die jüdische Erfahrungsgeschichte der Zeitschriftengründer ins Zentrum ihres Beitrags stellte. Aschrafi zeigte auf, dass die Redaktionsmitglieder zu einem größeren intellektuellen Gesprächskreis gehörten, der sich nach seiner Gründung 1980 informell die Bezeichnung „Jüdische Gruppe“ gegeben hatte. Die 40 bis 50 Mitglieder der Gruppe hatten gemein, dass sie zur sogenannten „zweiten Generation“ gehörten, also Kinder von Holocaust-Überlebenden waren. Zudem waren sie in den 1960er-Jahren in Frankfurt am Main unter anderem in der außerparlamentarischen Linken politisiert worden. Viele von ihnen hatten als Kinder und Jugendliche eine zionistische Erziehung genossen und eine Phase ihres Lebens in Israel verbracht. Obwohl auch sie teilweise mit Zweifeln am zionistischen Projekt nach Frankfurt zurückkehrten, trat nach Aschrafi am Palästinakonflikt die deutsch-jüdische Differenz besonders deutlich zutage. Bereits im Verlauf des Sechs-Tage-Kriegs 1967 war es innerhalb des linken Spektrums in Deutschland zu einer Entsolidarisierung mit dem jüdischen Staat gekommen. Bezeichnungen wie „nationalzionistischer Staat“ für Israel sollten eine Nähe des jüdischen Staates zum Nationalsozialismus andeuten. Anfang der 1980er-Jahre, mit dem Ausbruch des Libanonkriegs, scheuten sich deutsche Linke nicht davor, den israelischen Militärfeldzug mit der Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten gleichzusetzen. Gerade solche Unternehmungen von Seiten der deutschen Linken hätten die linken Juden an ihrem Bündnis mit ihren deutschen Genossen zweifeln lassen und führten zur Konstituierung der Jüdischen Gruppe. Aschrafi verwies auf das „weitgehende Fehlen eines Bewusstseins“ in der nichtjüdischen Linken darüber, „dass Israel nicht zuletzt aus Auschwitz hervorgegangen war“. Die Mitglieder der Jüdischen Gruppe hingegen verstanden den jüdischen Staat nicht einfach als Resultat zionistischer Ambitionen, sondern auch als Folge der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Die Reflexionen über den Palästinakonflikt wirkten sich auch auf die Bestimmung des Selbstverständnisses der Mitglieder der Jüdischen Gruppe aus. Dabei orientierten sie sich an der auf Isaac Deutscher zurückgehenden Figur des „nicht-jüdischen Juden“. Demnach wurde nicht die ethnische oder religiöse Herkunft, sondern „die vom Holocaust überschattete Vergangenheit“ bestimmend für das jüdische Selbstverständnis.

GERD KOENEN (Frankfurt am Main) schloss mit einem Kommentar an die Vorträge an. In seinem Beitrag stellte er insbesondere den Erfahrungsbegriff noch einmal zur Debatte. Anschließend an einen Satz Dan Diners aus besagter erster Ausgabe der Zeitschrift Babylon, „dass ‚die Juden‘ als kohärente Volksgruppe, als zusammenhängendes nationales Kollektiv in Europa gar nicht gab“, reflektierte er eingehend auf den Begriff der „spezifisch jüdischen Erfahrung“. Insbesondere warf Koenen die Frage auf, ob man den Protagonisten der Vorträge nicht nachträglich Unrecht tue, wenn man nach den jüdischen Anteilen ihrer Biografien suche. Die meisten der jüdischen Linken, so Koenen, hätten sich ja eben nicht als Juden, sondern als Linke verstanden. Zudem wollte er eine jüdische Erfahrung nicht auf die Verfolgung reduziert sehen. Die Referentinnen und Referenten präzisierten daraufhin noch einmal den von ihnen zugrunde gelegten Begriff der Erfahrung und betonten, dass er nicht als Essentialisierung zu verstehen sei. Vielmehr habe sich bei allen Unterschieden eine Gemeinsamkeit herausgeschält, die auf eine „jüdische Erfahrung“ zurückgeführt werden kann: Anders als der Großteil ihrer nicht-jüdischen Genossen, unter denen ab 1967 und besonders infolge des Libanonkriegs 1982 antiisraelische Vernichtungsdrohungen zum Commonsense geworden waren, vertraten sie nicht selten ein differenzierteres Bild vom Staat Israel.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jan Gerber (Leipzig), Philipp Graf (Leipzig)

Jan Gerber (Leipzig): Israel, die deutschsprachige Linke und der Holocaust: Drei Erinnerungsorte (Einführung)

Philipp Graf (Leipzig): Mexiko-Stadt, Heinrich-Heine-Klub, 1944. Kommunisten entdecken das jüdische Volk

Kristina Meyer (Berlin): Bonn, Bundeskanzleramt, 1969. Die SPD und die Dialektik der Normalisierung

Zarin Aschrafi (Leipzig): Frankfurt am Main, Verlagshaus Neue Kritik, 1982. Abschied von der Neuen Linken

Gerd Koenen (Frankfurt am Main): Erfahrung und Erinnerung. Kommentar